Von Ida Maria Smentek
Übersetzung Sarah Bogatay
Bilder Bayrische Schlösserverwaltung Landshut Burg Trausnitz: Herzogin Hedwig, um 1530; Gergor H. Lersch
1000 Jahre Geschichte, mehr als 70.000 Besucher, 800 Exponate, 200 Leihgeber aus aller Welt, 3000 m² Ausstellungsfläche: die Ausstellung „Tür an Tür“, die vom 23.09.2011 bis zum 09.01.2012 im Martin-Gropius-Bau Berlin zu sehen war, kann allein in Hinblick auf ihre Zahlen als Mammut-Projekt bezeichnet werden.
Doch auch die Intention des Projekts darf in ihrer politischen Dimension nicht unterschätzt werden. Zwanzig Jahre nach der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrages wurde „Tür an Tür“ anlässlich der polnischen EU- Ratspräsidentschaft gemeinsam vom Königsschloss Warschau und dem Martin-Gropius-Bau konzipiert. Die Erwartungen an die Wirkung der Ausstellung manifestieren sich wohl nirgends besser, als in der Tatsache, dass mit Herrn Bronisław Komorowski und Herrn Christian Wulff die Präsidenten beider Länder als prominente Schirmherren auftreten. Was in der Konstellation Merkozy im nachbarschaftlichen Verhältnis auf deutsch-französischer Ebene vorgemacht wurde, soll nun auch hinsichtlich des dritten Gliedes des Weimarer Dreiecks geschafft werden.
Doch die Nachwehen der jüngeren Geschichte sind immer noch stark und oft scheinen ausschließlich die letzten hundert Jahre die Substanz des deutsch-polnischen Verhältnisses auszumachen. Um hier eine Änderung zu erreichen, ging und geht es natürlich in erster Linie darum, über die Nachbarn diesseits und jenseits der Oder zu informieren. „Tür an Tür“ kam dabei laut Gereon Sievernich, Direktor des Martin-Gropius-Bau, eine zentrale Aufklärungsfunktion zu. Angefangen beim ersten gemeinsamen Heiligen, Adalbert, bis hin zur Position Polens und Deutschlands im vereinten Europa, wurde den Besuchern in neunzehn Sälen und zweiundzwanzig Kapiteln anhand von vorwiegend künstlerischen, literarischen aber auch wissenschaftlichen Produktionen sowie zahlreichen Urkunden und Dokumenten, die wechselhaften Beziehungen Deutschlands und Polens veranschaulicht. Man sah Abbildungen der Heiligen Hedwig, Bücher des Astronomen Kopernikus, die Landshuter Hochzeit, seltene Kupferstiche von Veit Stoß, Salonszenen des 19. Jahrhunderts, Zeugnisse des Deutschen Ordens, aber auch Auseinandersetzungen moderner Künstler mit der jüngsten deutsch-polnischen Vergangenheit; und kam sich am Ende als deutscher Besucher vor, als hätte man im Geschichtsunterricht des Öfteren geschlafen.
Denn die Besonderheit der Konzeption von „Tür an Tür“ bestand darin, dass der Blick auf 1000 Jahre gemeinsamer Geschichte einmal nicht von den eigenen Geschichtsbüchern, sondern der Sichtweise der östlichen Nachbarn geleitet werden sollte. Dieser Perspektivwechsel führte zu einem überaus erhellenden Kultur- und Wissenserlebnis. Ereignisse wie die Schlacht bei Tannenberg oder der Kniefall des späteren Herzogs von Preußen vor dem polnischen König Sigismund I. sind zentrale Erzählungen der polnischen Geschichte und Kernelement des polnischen Selbstverständnisses. In der deutschen Erinnerung spielen sie jedoch kaum eine Rolle.
So machten nicht nur die zahlreichen Exponate, sondern auch die aufmerksamen Besucher und ihre Anmerkungen im Gästebuch des Martin-Gropius-Baus die Wunden deutlich, welche vor allem der Zweite Weltkrieg und die Zeit des Kalten Krieges dem gegenseitigen Verständnis der beiden Länder zugefügt hat: „Als Teilnehmer des Zweiten Weltkrieges bedanke ich mich für diese neue Sichtweise“, schrieb ein Besucher und sprach damit wohl vielen anderen aus der Seele. Dass eben nicht nur Gegnerschaft die Substanz des Verhältnisses ausmacht, betont die Ausstellung durch Verweise auf die zahlreichen familiären Verbindungen der Herrschaftshäuser, binationale Künstler und Wissenschaftler, das europaweite Avantgarde-Netz, aber auch die Solidarität deutscher Künstler mit der Solidarność -Bewegung Polens. „Tür an Tür“ gelingt es, dem Besucher anhand der zahlreichen Beispiele zu vermitteln, dass beide Staaten auch schon andere und sehr fruchtbare Beziehungen zu einander pflegten. Definitiv eine weitere Errungenschaft des Projekts.
Wie die interkulturelle Arbeit hinter den Kulissen aussah, erläuterte Gregor H. Lersch. Er war Leiter des deutschen Projektteams am Martin-Gropius-Bau, „Ansprechpartner für Alles“ und unmittelbare Schnittstelle zwischen der künstlerischen Leitung und der organisatorischen Umsetzung. Fragt man nach den Anfängen seiner Arbeit für „Tür an Tür“ verweist er auf die Rasanz, mit der Anda Rottenbergs Idee in die Tat umgesetzt wurde. Zwei Jahre vor Ausstellungsbeginn begannen die Projektteams und Beiräte mit ihrer Arbeit, nachdem die Förderung durch das polnische Kultusministerium und den deutschen Kulturstaatsminister bewilligt und damit das Projekt finanziert war. Zwei Jahre mögen zunächst als reichlich Zeit erscheinen, aber ein Blick auf die enorme Summe der Ausstellungsstücke macht den organisatorischen Druck deutlich, mit dem beide Projektteams zur rechtzeitigen Umsetzung der Ausstellung und des Kataloges konfrontiert waren.
Ihnen oblag es, zunächst einmal mögliche Exponate zu recherchieren, denn das Konzept sah nur wenig konkrete Stücke vor. Dann machten sich die Kollegen daran, die für die Ausstellung anvisierten Objekte zu beschaffen. Es wurde dazu eine Art Wunschliste erstellt, mit der sich die Projektteams an die unterschiedlichen Leihgeber wandten. Dabei gab es eine klare Trennung der Aufgabenbereiche der Teams: Während die Mitarbeiter in Warschau damit betraut waren, sich mit den Museen, Kirchen und Privatpersonen in Polen in Kontakt zu setzten, kam dem deutschen Projektteam die Aufgabe zu, diese Arbeit für Deutschland und die übrigen Länder zu übernehmen.
Diese Aufgabenteilung hing laut Gregor H. Lersch eng mit der knapp bemessenen Vorbereitungszeit und der Menge an Ausstellungsmaterial zusammen. Beide Projektteams mussten circa einhundert Leihgeber davon überzeugen, ihnen die gewünschten Objekte zur Verfügung zu stellen. Ein aufwendiger Prozess, denn die Exponate müssen zumindest bei den größeren Museen und Sammlungen ein Jahr im Voraus erfragt werden. Daher war die Teilung der Zuständigkeitsbereiche eine einfache Frage der Ökonomisierung – Sprachkenntnisse und die Vertrautheit mit den örtlichen Gepflogenheiten sorgten für mehr Effektivität.
Nicht jeder Wunsch konnte erfüllt werden, was angesichts der Dimension der Ausstellung fast unglaubwürdig klingt. Allerdings betont Gregor H. Lersch, dass dies keineswegs mit dem Unwillen der Leihgeber gegenüber dem Konzept von „Tür an Tür“ zusammenhängt. Ganz im Gegenteil: Das Projekt sei überall auf sehr positive und wohlwollende Reaktionen gestoßen. Doch die innermuseale Landschaft hat ihre speziellen Regeln. Teilweise waren die Exponate schon für andere Ausstellungen vorgesehen, oder sie wurden im eigenen Haus gebraucht. Der wohl häufigste Grund einer Absage war aber die Tatsache, dass manche Objekte schlicht und ergreifend nicht als reisefähig eingestuft werden konnten. Schließlich werden die Ausstellungsstücke durch den Transport stark beansprucht, viermal muss jedes Stück für eine Leihgabe ab- und wieder aufgebaut werden. Große Objekte, wie das für die Ausstellung zentrale Bild „Hold Pruski - Preußische Huldigung“, erfordern ein besonders aufwendiges Procedere: Die Rahmenteile werden auseinandergenommen, die Leinwand auf den Boden gelegt, der Keilrahmen herausgenommen und das Bild schließlich auf einer Rolle befestigt.
Eine der größten Herausforderung, abgesehen von der eigentlichen Beschaffung der Ausstellungsstücke, ist wohl die Organisation und Kommunikation zwischen den einzelnen beteiligten Büros, das Management auf interkultureller Ebene. Wohl an die zwanzig Mal fuhr Gregor H. Lersch mit seiner Gruppe zu den Kollegen nach Warschau, um Ideen zu besprechen, Arbeitsabläufe zu koordinieren, Ergebnisse auszutauschen und schließlich dafür zu sorgen, „dass beide Teile zusammenpassen“. Alle sechs Monate traf man sich mit den Beiräten, um die Struktur der Ausstellung zu klären.
Dabei bildete sich bei „Tür an Tür“, wie es wohl bei vielen internationalen Kunst- und Kulturproduktionen der Fall ist, eine Art Metaebene der interkulturellen Zusammenarbeit heraus, in der die jeweilige Nationalität keine vordergründige Rolle mehr spielte. Ein Grund für diese Entwicklung war die Tatsache, dass die Arbeitssprache während des gesamten Projekts Englisch war und dies, obwohl einige Mitarbeiter die jeweils andere Sprache fließend beherrschten. Auch innerhalb der Teams wurden, zumindest im professionellen Bereich, weder Deutsch noch Polnisch gesprochen. „Die Informationen mussten weitergeleitet werden und zwar eins zu eins“, mit dem Wechsel zwischen den Sprachen hätte die Kommunikation einfach nicht so schnell und effizient funktionieren können.
Auch hebt Lersch hervor, dass die Zusammensetzung der Projektteams, welche vorwiegend aus jungen und auslandserfahrenen Mitarbeitern bestand, einen wichtigen Einfluss auf die positive Zusammenarbeit hatte: „Globalisiert ist zu viel gesagt, wenn man von Deutschland und Polen spricht, aber es war ein internationales Gefüge.“ Das Spannungsverhältnis bestand bei „Tür an Tür“, wie bei jeder Kulturstruktur, vor allem zwischen der künstlerischen Leitung und der Produktionsleitung. Es handelte sich also kaum um ein interkulturelles Problem. Viel eher als zwischen den beiden Kulturen, habe es zwischen den Beiräten aus verschiedenen Fachrichtungen Diskussionsbedarf gegeben, der mit ihren unterschiedlichen Auffassungen zur Repräsentation von 1000 Jahren Geschichte und Kultur zusammenhing.
Unterschätzt werden durfte die Herausforderung der Zusammenarbeit allerdings nicht, denn im deutsch- polnischen Verhältnis bewegt man sich „in einem Feld, wo es auch Möglichkeiten gibt, viele Fehler zu machen“. Zentrales Schlagwort, das für die gesamte Ausstellung als auch ihre Realisierung galt, war laut Lersch Sensibilität. Auf sprachlicher Ebene können beispielsweise Formulierungen wie die „polnischen Teilungen“ - und eben nicht die Teilungen Polens - bei den Nachbarn ungewollt und unbewusst Unmut hervorrufen. Besonders wichtig für ihre Arbeit war, dass sich alle Kollegen auf dem gleichen Wissensstand befinden und „versuchen zu verstehen, wie das Geschichtsbild des Anderen funktioniert“. So waren beispielsweise auch die polnischen Kollegen von der kritischen Betrachtung der innerdeutschen Teilung aber auch der Tatsache, dass der Zweite Weltkrieg einen sehr wichtigen Teil der deutschen Identität darstellt, erstaunt. Im Großen wie im Kleinen: Die „Polen“ und die „Deutschen“, wie sich die beiden Projektteams fast ironisch nannten, erlebten im Vorfeld der Ausstellung einen Kenntniszuwachs, den man sich auch von den Besuchern von „Tür an Tür“ erhofft.
Schließlich wurden drei Wochen vor der eigentlichen Eröffnung der Ausstellung im Martin-Gropius-Bau die Ergebnisse der beiden Projektteams unter deutscher organisatorischer Leitung zusammengeführt. Über fünfzehn Wochen konnten die vorwiegend polnischen und deutschen Besucher ihr Wissen hinsichtlich der gemeinsamen Geschichte erweitern. Besonderes Augenmerk lag dabei auf den jüngsten Gästen: Durch Förderungen wie Fahrkostenzuschüsse und kostenfreie Führungen, wurde der Ausstellungsbesuch für Schulklassen unterstützt. Nachhaltigkeit der Vermittlung lautete hier die Parole. Insgesamt haben so mehr als 14.000 Kinder und Jugendliche aus beiden Ländern das Kooperationsprojekt „Tür an Tür“ besucht.
Und auch wenn das Augenmerk der Ausstellung auf Grund des polnischen Blickwinkels streng genommen eher bei den deutschen Gästen lag, so rief sie doch auch bei polnischen Besuchern eine sehr positive Resonanz hervor. Diese kamen nicht nur aus den grenznahen Gebieten, sondern durchquerten teilweise das ganze Land, um viele der für ihre Nation so zentralen Kunstwerke und Dokumente endlich einmal zusammen an einem Ort zu sehen. Auch so wurde „Tür an Tür“ zu einem Bildungserlebnis, denn wie es Gregor H. Lersch formulierte: „Auf einer Reise nach Berlin erlebt man noch viel mehr als nur eine Ausstellung.“
Nach zwei Jahren intensiver Arbeit zog er ein sehr positives Fazit: „Dass ein binationales Projekt zwischen Deutschland und Polen trotz des komplexen Verhältnisses in dem Rahmen so möglich ist, ist großartig.“ Die Frage, ob eine Präsentation der Ausstellung auch in Polen geplant sei, verneint er jedoch und nennt gute Gründe: Zum einen hätte man auf Grund ihrer Empfindlichkeit für eine Wanderausstellung ganz andere Exponate zusammenstellen müssen. Zum anderen bestand die Besonderheit von „Tür an Tür“ ja gerade im polnischen Blick auf die nachbarschaftliche Geschichte. Eine interessante Idee wäre es daher, eine Spiegelung dieser Ausstellung zu schaffen, das heißt, die gemeinsame Vergangenheit unter deutscher Kuratorenschaft in Warschau zu konzipieren. Pläne gibt es allerdings auch für ein solches Projekt noch nicht. Und nach Besuch dieser schon als Opus Magnum zu bezeichnenden Ausstellung war es auch sehr verständlich, dass alle Beteiligten froh waren, die Realisierung von „Tür an Tür“ in Berlin überhaupt geschafft zu haben.